1 Horst – von Pommern nach Felde

Die Szene spielt 1942 in einem kleinen Dorf am Streitzigsee in der Nähe von Neustettin, dem heutigen Szczecinek: Der Volksschullehrer klopft an die Tür, um Familie Barz davon überzeugen, dass der zehnjährige Horst auf eine weiterführende Schule gehen solle. Der Vater wehrt ab. Ist er nicht mit Volksschulbildung Stellmachermeister geworden, genau wie sein Vater vor ihm? Wozu soll sein Ältester noch mehr Jahre auf der Schulbank absitzen? Ebenso großen Widerstand leistet Horst selbst – und geht dann doch gern auf die Mittelschule in Neustettin. Anfang Januar 1945 erhalten die Bewohner des Dorfes den Befehl, ihre Höfe zu räumen und nach Westen zu fliehen. Wer kein Pferdegespann besitzt, kommt im tiefen Schnee nicht weit. Etwa der Hälfte der Dorfbewohner gelingt die Flucht bis nach Mecklenburg. Die anderen, unter ihnen auch Horsts Mutter mit ihren drei Söhnen, harren einen Monat lang nur 20 Kilometer von ihrem Dorf entfernt in einem Evakuierungsbereich aus, der gegen die Russen verteidigt werden soll. Dann kehren sie zurück. Die Rote Armee schließt Pommern unterdessen ein und besetzt danach Dorf um Dorf. Ein Jahr unter russischer Besatzung beginnt. Für die Frauen ist es ein Jahr voller Angst vor Vergewaltigung, viele werden zu Opfern. Polen, die ihr Land im Osten Polens verloren haben, weil es nach dem Zweiten Weltkrieg Staatsgebiet der Sowjetunion wird, übernehmen Höfe und Betriebe. Horst kennt sich in der Stellmacherei besser aus als der Pole, der den Betrieb übernimmt. Er weiß, wie die Maschinen zu bedienen sind, und bald arbeiten der polnische Stellmacher und er gut zusammen. Als Vierzehnjähriger repariert er gemeinsam mit einem Freund Traktoren, setzt die Mühle wieder in Gang, organisiert das Dreschen. Er wird schnell erwachsen. Im April 1946 müssen alle Deutschen Pommern verlassen. Von Neustettin fahren Horsts Mutter und die drei Jungs mit dem Zug nach Stettin und am nächsten Tag mit einem Dampfer über die Ostsee nach Lübeck. In Bosau am Plöner See werden sie in einer Flüchtlingsunterkunft untergebracht. Der Vater schreibt ihnen aus englischer Kriegsgefangenschaft, Horst solle auf jeden Fall weiter zur Schule gehen. Alles habe die Familie verloren, aber was der Junge im Kopf habe, könne ihm niemand nehmen. Horst macht Abitur und treibt Sport. Etwas zu leisten, sich mit anderen zu messen und sich durchzusetzen ist ihm wichtig, denn schräge Blicke und gemeine Bemerkungen der Einheimischen verletzen ihn. „Alle Vertriebenen sind Verbrecher!“ Dieser Satz, den er damals hörte, schmerzt ihn bis heute. Er entscheidet sich für ein Studium an der Pädagogischen Hochschule in Kiel und wird Volksschullehrer. Es ist die schnellste Möglichkeit, mit einem Hochschulabschluss Geld zu verdienen. Während er unterrichtet und sich für die Mittelschule weiterqualifiziert, lernt er eine junge Kollegin kennen, der er gar nichts beweisen muss. Sie verliebt sich in ihn, ohne Wenn und Aber. Zwei Mal in der Woche fährt sie mit ihm in der ersten Zeit nach Bosau, um seinen Eltern beim Hausbau zu helfen. Seine schwerkranke Mutter soll noch den Einzug in ein eigenes Zuhause erleben – ein Wunsch, der sich nicht erfüllt. Horst und seine Frau ziehen 1964 nach Felde. Sein politisches Engagement beginnt, als die Autobahn mitten durchs Dorf gebaut werden soll. Ohne ihn und seine Mitstreiter von damals gäbe es heute wohl weniger geschützte Flächen rund um Felde, das Dorf würde von einer Autobahn zerschnitten. Von 1986 bis 1994 und dann noch einmal von 1998 bis 2008 wird er Bürgermeister, obwohl er der FDP angehört. Damals sind die meisten Dörfer rund um Kiel fest in der Hand der CDU. Wieder einmal ist er aus einer scheinbar schwachen Position gestartet und hat es allen gezeigt. Er setzt sich für die Bahnstation in Felde ein, sichert der Gemeinde frühzeitig das Land, das später für die Erweiterung des Bahnhofs um ein zweites Gleis gebraucht wird, richtet einen Bauhof ein und unterstützt den Bau eines Supermarkts. „Gute Infrastruktur inmitten einer liebenswerten Landschaft“, so nennt er das. Feldes Dorfmitte sähe heute ganz anders aus, wäre er mit seinen Ideen und seinem pommerschen Sturkopf nicht gewesen. Seine Frau hütet ohne große Begeisterung die Medaillen und Auszeichnungen bis hin zum Bundesverdienstkreuz, die ihm verliehen werden. Wichtig ist doch er selbst, nicht der Klunkerkram. Gemeinsam gehen sie durch Dick und Dünn, dann stirbt sie nur wenige Jahre nach ihrer Pensionierung. Er lebt bis heute in dem Haus, in dem seine Kinder groß wurden. Ein Interview mit Horst gibt es hier:
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